Dumm, Sexy, Naiv – Einfach genial: Das Musical
Die Komplexität des Musicals als ein Zusammenspiel von Musik, Theater und Tanz zeigt sich auf der Improbühne in den Facetten des Genrereplay, der musikalische Szene oder aber in seiner typischen Langform. Und immer wieder ist dieses vielschichtige Genre eine echte Herausforderung. Denn so mannigfaltig und flexible das Musical in seiner Musik, seinen Geschichten und seinen Tanz-Performationen ist, so sehr glückt dieser Mischung auch oft ein Wirkungspotential verblüffenden Ausmaßes. Heutzutage zieht das Musical Millionen an! Es begeistert Erwachsene, Jugendliche und Kinder gleichermaßen. Die Massen strömen in die Arenen, um sich dort Geschichten anzusehen, deren jeweiliger Plot teilweise simpel, ja fast lächerlich anmutet. Nehmen wir als Beispiel einmal eines der erfolgreichsten Musicals der Welt.
Dampflok liebt Erste-Klasse-Wagen
„Starlight Express“ ist mit über 12 Millionen Zuschauern in Bochum das gewinnbringendste Musical an einem Standort. Das Stück erzählt die Geschichte von der kleinen, liebenswerten und veralteten Dampflok Rusty in ihrem verzweifelten Kampf gegen die moderne E-Lok Electra und die mächtige Diesellok Greaseball. Und natürlich ist die Dampflok auch noch verliebt, und zwar in einen Erste-Klasse-Wagen. Man stelle sich nun ironischerweise vor, man ginge ins Deutsche Theater, um sich die Love Story einer alten Dampflok zu einem Anhänger anzusehen. Zweieinhalb Stunden lang.
Wie also schafft es das Musical, als eine Form des Theaters, mit so simplen Geschichtsstrukturen derart viele Menschen zu unterhalten?
Warum funktionieren Musicals so gut?
Das Musical ist heute wieder und immer noch ein gefühlsbetontes, oft als kitschig empfundenes Bühnenstück, das sich nicht allzu sehr von den bunt zusammengestellten Revuen abhebt, aus denen es entstanden ist. Märchen, Kindergeschichten und klassische Schauerroman-Geschichten bilden gern die Handlung und funktionieren im Musical deshalb so gut, weil der Fokus oft nicht nur auf der Geschichte an sich, sondern hauptsächlich auf der Umsetzung der Geschichte liegt. Der intellektuelle Anspruch oder die komplexe Differenziertheit des Plots ist nicht das Entscheidende, sondern seine opulente, liebevolle Umsetzung in Gesang, Tanz und Schauspiel.
Brauchen Musicals komplizierte Plots?
Gerade einfache Handlungsstrukturen machen die famose Love-Story oder Heldenreise so genial, da sie dem Zuschauer durch ihren archetypischen Verlauf eine gewisse Vorhersehbarkeit bieten. Man weiß einfach, dass die liebe, kleine Dampflok Rusty nicht in der Schrottpresse landet. Und das beruhigt ungemein. Auf diese Art von Geschichten lassen wir uns gerne ein. Aufgrund ihrer strukturellen Transparenz erlauben wir es uns quasi, die Geschichte in all ihren Höhen und Tiefen mitzuträumen, uns komplett fallen zu lassen.
Wie kompliziert muss der Plot beim (Impro) Musical sein?
Es sind teilweise die uns altvertrauten Geschichten, die wir schon als Kinder von unseren Eltern vorgelesen bekommen haben, und die uns immer wieder heimische Sonntagnachmittage versüßen. ….“und die liebe, kleine Dampflok lebte glücklich mit dem Erste-Klasse-Wagen bis an ihr Lebensende…“ Kurzum heißt das für all diejenigen, die das Genre Musical improvisieren wollen: haltet die Story simpel. Tasse liebt Untertasse, und der böse, böse Löffel schiebt sich ständig dazwischen- das kann ein abendfüllendes Musical sein, welches die Zuschauer fantastisch unterhält.
Braucht ein Impro Musical eine Struktur?
Auf der Improbühne erachte ich es gerade am Anfang als im höchstem Maße hilfreich, mit einer sehr schlichten dramaturgischen Grundstruktur zu arbeiten, die bestenfalls die Schauspieler von der Bürde befreit, in jedem Moment den Geschichtsverlauf des gesamten Musicals im Kopf haben zu müssen. Ein optimales Instrumentarium ist diese Grundstruktur dann, wenn sie eine klare Gliederung des Verlaufs der Story beinhaltet. Das Vorstellen der Figuren, die Ausarbeitung des Konflikts sowie dessen finale Lösung stellen hierbei lediglich das grobe Gerüst dar. Es ist die Verinnerlichung einer präzisen Sequenzaufgliederung, die es dem Impro-Schauspieler erleichtert, sich voll und ganz mit der gesanglichen und tänzerischen Ausschmückung der einzelnen Szenen sowie der Charaktere zu beschäftigen. Wenn das Instrumentarium des sequentiell analysierten Plots richtig beherrscht wird, hat der Impro-Schauspieler die kreative Freiheit, sich immer nur der Ausschmückung des jeweils aktuellen Abschnitts der Geschichte widmen zu müssen.
Die Heldenreise
Für meine Seminare habe ich eine spezifische narrative Struktur, nämlich die der Heldenreise, so aufgearbeitet, dass es mit dieser Vorlage möglich ist, ein gelungenes Impro-Musical auf die Bühne zu bringen. Mit diesem Instrumentarium an der Hand improvisieren die Schauspieler sich systematisch vom fulminanten Opener über sieben weitere Bausteine bis hin zum Schlussbild. Theoretisch ist eine solche Konzeptualisierung für jede narrative Form möglich. Die strukturellen Eckpfeiler der jeweiligen Geschichtsform müssen lediglich klar analysiert und anschließend in einer Sequenzialisierung instrumentalisiert werden.
Der Opener
Grundsätzlich ist es schön, das Musical mit einem Opener zu beginnen, der den Zuschauer in die Welt der Geschichte mitnimmt, ihn in die Stimmung und den Ort einführt. Diese erste atmosphärische Szene funktioniert wie eine kurze Immersion in das Genre, wie ein kleines tänzerisches und gesangliches Amuse-Gueule. Anschließend gilt es dann, die Figuren in ihrer Gefühlswelt, ihrem Bestreben, ihren Vorstellungen und ihrem Dilemma vorzustellen.
Der Aufbau
Die Bedeutung der Nebenfiguren ist hierbei nicht zu unterschätzen. Sie sind es, die als Ausstatter der Hauptfiguren fungieren und außerdem -wie eine Art „Sicherheitsnetz“ – die Handlung stützen und komplettieren können. Für den, der nach mehr Herausforderung sucht, existiert selbstverständlich die Möglichkeit, einen zweiten Handlungsstrang auf der Nebenfiguren-Ebene zu etablieren – sehr wirkungsvoll ist hier die Variante, welche den Inhalt des Hauptstrangs in nur leicht modifizierter Form spiegelt. Die Addition von Handlungssträngen kann dann natürlich zu einer immer komplexeren Form betrieben werden. Aber für den Anfang gilt dennoch: Je einfacher die Geschichte ist, desto mehr Herzblut und Aufmerksamkeit kann man der Musical-spezifischen Umsetzung widmen- dem Verschmelzen von Tanz, Gesang und Schauspiel.
Ganz einfach verblüfft!
Um auf der Impro-Bühne gerade diese Verschmelzung visuell zu erreichen, ist es sehr hilfreich, sich ein Repertoire an Tanzformaten zu erarbeiten die es ermöglichen, synchrone oder teilsynchrone Performances auf die Bühne zu bringen. Die Erarbeitung eines Repertoires an Formaten ist für die Musical-Improvisation unbedingt empfehlenswert, da das Genre Musical im Original mit aufwendig einstudierten Choreographien arbeitet. Da die wenigsten Impro-Schauspieler ausgebildete Tänzer sind, erscheint es mir sinnvoller, Gruppenperformances den Einzel- oder Duett-Performances vorzuziehen. Denn der Moment einer simplen, aber synchronen Bewegung einer Gruppe ist für das Publikum immer wieder geradezu verblüffend und beeindruckend. Dagegen muss die Qualität der Darstellung eines Solos oder eines Duetts um so vieles höher sein, um denselben Effekt zu erzielen. Natürlich gibt es innerhalb jeder Gruppe ein unterschiedliches Maß an tänzerischen Fähigkeiten, welches es unbedingt im Vorhinein zu analysieren gilt. Wenn das niedrigste Niveau, welches innerhalb der Gruppe zu finden ist, als Maßstab gilt, kann ein homogenes Gesamtbild entstehen. Heterogenität in synchron angelegten Gruppenperformances ist absolut fehl am Platz. Nicht nur, weil sie den angestrebten visuellen Effekt verfehlen würden, nein, nichts ist für einen Schauspieler entmutigender, als auf der Bühne in seinem Unvermögen vorgeführt zu werden.
Beim Tanzen gilt: Qualität über Ego!
Alle Impro-Tanzformate beruhen auf demselben Prinzip. Einer gibt den Impuls, und alle anderen greifen ihn synchron auf. Damit das funktioniert, gilt auch hier wieder die Devise: haltet die Bewegungen simpel! Der Impulsgeber muss seinen Mitspielern die Möglichkeit geben, ihm wirklich folgen zu können. Das heißt, ruckartige, unvorhersehbare Änderungen des Bewegungsmodus sind der Sache undienlich, denn sie machen Homogenität unmöglich. Mit anderen Worten: beim synchronen Gruppentanz heißt es, sein Ego zurückzustellen, um die Qualität der gemeinsamen Leistung zu heben.
Auch beim Gesang gilt: Weniger ist mehr!
Der Gesang ist eine weitere essentielle Komponente des Musicals, für die in der Improvisation einfache Strukturalität ein Leitmotiv bleiben sollte. In der Genrebreite, die das Genre Musical abdeckt gibt es zahlreiche Möglichkeiten, Lieder zu singen und Songs zu strukturieren. Aber die simplen Varianten à la Strophe-Strophe-Refrain-Strophe-Refrain oder, noch besser, Strophe-Strophe-Refrain-Refrain-Refrain…. bewähren sich im Impro-Musical immer wieder.
Refrains Refrains Refrains
Und auch auf der syntaktischen Ebene gilt: weniger ist erst mal mehr. Wenn in kreativem Übermut Refrains mit sieben Wörtern etabliert und anschließend vergeblich zu erinnern versucht werden, empfiehlt es sich viel eher, vielleicht die fünf-Wörter-Marke einzuhalten. Natürlich gibt es Kollegen, die lange Refrains und syntaktisch komplexe Strophen mit Bravour auf die Bühne bringen, aber für alle, die klein anfangen, lohnt es sich, die Kunst des Fünf-Wort-Refrains zu üben. So hat man selbst die Chance, sich an seinen Refrain zu erinnern und gibt außerdem auch dem Chor die Möglichkeit, in einen weniger komplexen Refrain mit einzusteigen.
Wünsche Träume und Sehnsüchte
Und last but not least bewähren sich die simplen Strukturen auch für die Text-Inhalte der Songs. Oft wird der Fehler gemacht, die Geschichte im Song weiterzuerzählen. Dabei es ist einfacher und wirkungsvoller, in den Liedern lediglich das momentane Gefühlsleben des jeweilgen Protagonisten zu thematisieren wie in „ Suddenly Seymor“ aus Little Shop of Horrors. Welche Wünsche, Träume und Sehnsüchte hat der Held oder die Heldin? Häufig entsteht der Song nach einem Dialog der ein Gefühl auslöst oder gar aus einem Gespräch heraus. Dem Impro-Tool „Geheimen Gedanken“ gleich ist der Protagonist am Anfang noch für sich, wendet sich aber bald dem Publikum als geheimen Gefährten zu, um sich ihm anzuvertrauen und mit voller Inbrunst all das auszumalen, was ihn bewegt. Es geht darum zu illustrieren, den Traum oder des Ziel in dem Song auf der Bühne entstehen zu lassen. Wenn es der Tasse darum geht, einmal nur einen Abend mit der Untertasse allein zu sein, dann will man sehen, was sie mit dem Moment anfängt, und was er für sie bedeutet und wie er ablaufen wird. Hier geht es dann nicht mehr um Schlichtheit, sondern um den großen Ausdruck. Keine Scheu vor großen Gefühlen und großen Gesten. Leidet, bebt, trauert, liebt voller Leidenschaft, seid böse, neidisch gehässig und zwar voller Inbrunst: das verträgt das Genre, mehr noch: davon lebt es. Womit wir bei den archetypischen, dramatischen, beizeiten überzogenen und schrillen Charakteren wären, die das große Potential eines Musicals sind.
Charaktere beim Musical
Natürlich muss der Darsteller diese Figuren in ihrer oftmals karikativen Seinsweise unbedingt ernst nehmen. Dem Klischee zu 100% verhaftet, wirken der trottelige Blumenverkäufer Seymour, seine angebetete naive Blondine Audrey und der mit ihr liierte sadistische Zahnarzt aus Little Shop of Horrors alle drei ganz selbstverständlich und real. Mut zu archetypischen, simpel strukturierten Charakteren ist ein Erfolgsfaktor des Musicals
Die Rollenfalle
Ich habe in meinen Impro-Musical-Workshops festgestellt, dass Männer oft weniger Schwierigkeiten damit haben, in klischeehafte Rollen zu schlüpfen und diese ohne Scham mit voller Inbrunst auszufüllen. Frauen hingegen scheinen sich oft davor zu scheuen, Blond-Sexy-Blöd-Figuren zu spielen. Die in der emanzipierten Realität verpönte „Rollenfalle“ muss im Musical vergessen werden. Auf die Musical-Bühne gehört das Klischee von Mann und Frau. Das Musical lebt von seinen blöden, sexy Blondinen, gefährlichen Vamps, bösen Hexen und vielen anderen weiblichen Urtypen. Und wo ist das Problem, eine blonde, sexy, Untertasse zu spielen?
Die Kunst der Musen
Abschließend kann dazu noch ein etymologischer Ausflug zum Thema erhellend sein. Das Wort Musical ist lediglich ein Adjektiv, welches zu Deutsch so viel heißt wie „musikalisch“. „Musikalisch“ wiederum ist zurück zu führen auf „Musik“, das seinerseits aus dem altgriechischen mousikē technē (μουσικὴ [τέχνη]) stammt, was so viel bedeutet wie „musische [Kunst]“. Und die musische Kunst ist nichts weniger als die Kunst der Musen. Wenn also alle anderen Künste ihre eigenen Namen erhalten haben, so bleibt das Musical noch in seinem Namen selbst musisch, oder mit anderen Worten: weiblich inspiriert.
Und zum Schluss
Jede Langform ist und bleibt eine Herausforderung. Gerade das Musical stellt hier besondere Anforderungen, da sich zu der Kunst des Geschichtenerzählens die Kunst des Performens, also die des Singens und Tanzens gesellen, welche oft spezieller Zuwendung bedürfen . Sich diesen Aufgaben liebevoll zuzuwenden, dies zu proben und weiterzuentwickeln, wird das Publikum tosend beklatschen. Und mit einer entsprechenden Qualität hat dann das Impro-Musical eine Chance, sich aus der karikierten Ecke herauszubewegen um sich als Kunstform zu etablieren, die in der Öffentlichkeit so mehr Beachtung findet.
S. Kjel Fiedler